Einleitung
Demokratie gilt als das beste bislang bekannte politische System – zumindest im Vergleich zu allen bisher ausprobierten Alternativen. Doch ihre praktische Ausgestaltung in modernen Gesellschaften lässt Zweifel aufkommen, ob sie tatsächlich ihrem Ideal gerecht wird. Zahlreiche zugeschriebene Zitate spiegeln diese Zweifel:
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„Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt sind, haben nichts zu entscheiden.“
(sinngemäß Bertolt Brecht; vgl. Norbert Lammert, Bundestagsrede, 2011) -
„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten.“
(Emma Goldman, häufig zitiert, Ursprungsquelle umstritten) -
„Wir beschließen etwas, stellen es in den Raum und warten ab. Wenn es kein großes Geschrei gibt, machen wir weiter – Schritt für Schritt.“
(Jean-Claude Juncker, zitiert im Spiegel, 1999)
Wenn diese Aussagen mehr sind als bloße Polemik, dann ist zu fragen: Wie tief reicht die strukturelle Problematik gegenwärtiger Demokratien? Und ließe sich ein System denken, das tatsächlich dem Volkswillen Rechnung trägt – frei von intransparenten Machtstrukturen, Parteidisziplin und opportunistischem Verhalten?
Strukturelle Defizite moderner Demokratien
Repräsentative Demokratien sollen gewährleisten, dass politische Entscheidungen im Namen der Bevölkerung getroffen werden. Tatsächlich jedoch unterliegen viele Entscheidungen parteiinternen Machtlogiken, Fraktionszwängen, sowie dem Einfluss von Lobbygruppen oder wirtschaftlichen Interessen. Die innerparteiliche Demokratie ist oft eingeschränkt: Spitzenkandidaten werden durch Gremien bestimmt, nicht durch breite Mitgliedervoten. Dissens innerhalb der Partei wird selten gefördert, sondern häufig sanktioniert.
Beispielhaft:
In Deutschland entschied die Bundesregierung 2011 innerhalb
weniger Tage den Atomausstieg – ohne vorherige breite
parlamentarische oder gesellschaftliche Debatte. Ähnlich wurde in
der Corona-Pandemie mehrfach unter starkem Zeitdruck per
Verordnung regiert – ein Ausnahmezustand, der zum Dauerzustand zu
werden drohte.
Ein alternatives Modell: KI-basierte Entscheidungsfindung
Vor dem Hintergrund dieser Defizite stellt sich eine provokante Frage: Was wäre, wenn politische Entscheidungen nicht mehr von Menschen getroffen würden – sondern von künstlicher Intelligenz?
Natürlich ist das eine Utopie. Aber gerade utopische Konzepte ermöglichen es, bestehende Systeme kritisch zu durchleuchten. Die Idee lautet: Ein Wettbewerb intelligenter, algorithmischer Systeme ersetzt die Entscheidungsmonopole politischer Eliten. Bürger*innen wählen zwischen verschiedenen KI-Systemen, die auf spezifische Gesellschaftsbereiche spezialisiert sind – etwa Umweltpolitik, Bildung, Gesundheitswesen oder Infrastruktur.
Grundstruktur eines solchen Modells:
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Vielfalt der Systeme:
Verschiedene KIs mit unterschiedlichen ethischen, ökonomischen und sozialen Zielparametern treten zur Wahl an. Sie legen offen, nach welchen Kriterien sie Entscheidungen treffen. -
Demokratische Auswahl:
Die Bevölkerung testet und bewertet diese Systeme anhand transparenter Szenarien und Simulationen. Was überzeugt, wird gewählt. -
Unveränderbarkeit nach der Wahl:
Die gewählte KI wird kryptografisch gesichert und kann während ihrer Amtszeit nicht verändert oder manipuliert werden. Dies gewährleistet Konsistenz und verhindert nachträgliche Einflussnahme. -
Überprüfbarkeit durch offene Daten:
Die Entscheidungsgrundlagen jeder Handlung sind offen dokumentiert. So kann jede*r nachvollziehen, wie es zu einem Ergebnis kam.
Was würde dadurch entfallen?
(Satire)
Ein Berufszweig, dessen Beliebtheit und Nutzen in der Bevölkerung
zunehmend in Frage steht – der des Berufspolitikers – würde
schrittweise obsolet. Die frei gewordenen Kräfte könnten sich auf
neue Betätigungsfelder konzentrieren: etwa in der
Verteidigungsindustrie, beim Aufbau digitaler Infrastrukturen oder
in der Integration der immer wieder beschworenen, aber selten
gesichteten Fachkräfte.
Keine Postenrotation zwischen Ministerium und Wirtschaft mehr. Keine Klientelpolitik. Keine Aufsichtsratsversorgungswege. Keine vetternwirtschaftlich motivierten Personalentscheidungen. Künstliche Intelligenz kennt keine Cousins, keine Parteifreunde und keine Zukunft im Aufsichtsrat eines Rüstungskonzerns.
Vorteile des Modells
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Entscheidungsneutralität:
KI entscheidet nicht aus ideologischen oder machtpolitischen Motiven, sondern nach überprüfbaren Zielmetriken. -
Transparenz:
Die Regeln, nach denen gehandelt wird, sind öffentlich – im Gegensatz zu Koalitionsverträgen, Nebenabsprachen oder Lobbyeinflüssen. -
Verantwortlichkeit durch Daten:
Entscheidungen basieren auf dokumentierten Annahmen, die nachvollziehbar und überprüfbar sind. Fehler können offengelegt und systematisch behoben werden. -
Langfristigkeit:
Während menschliche Politik häufig auf die nächste Wahlperiode fokussiert ist, kann KI auf langfristige Nachhaltigkeit und Resilienz optimieren.
Kritische Reflexion und Herausforderungen
Natürlich gibt es gewichtige Einwände gegen ein solches System:
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Programmierung ist nie neutral:
Jede KI spiegelt die Annahmen und Zielwerte ihrer Entwickler. Wer entscheidet über das „richtige“ ethische Grundgerüst? -
Demokratische Kontrolle bleibt notwendig:
Auch KI muss legitimiert, überprüft und gegebenenfalls ersetzt werden. Die Verantwortung kann nicht ausgelagert werden, nur weil ein Algorithmus sie technisch ausführt. -
Schutz von Minderheiten:
Eine mehrheitsoptimierte KI könnte vulnerable Gruppen systematisch benachteiligen, wenn dies statistisch effizient erscheint. Hier sind starke ethische Leitplanken nötig. -
Fehlertoleranz:
Auch maschinelle Systeme können Fehlentscheidungen treffen. Daher braucht es Korrekturmechanismen, Transparenz und Revisionsverfahren – nicht unähnlich einem Verfassungsgericht.
Schlussgedanke: Die Grenzen der Vernunft
(Satire)
Man könnte nun annehmen, dass eine rationale, datenbasierte und
transparente Form der Entscheidungsfindung Begeisterung auslösen
müsste. Doch genau hierin liegt möglicherweise die größte Schwäche
der Utopie: Die stille Freude, die manche Akteure an
intransparenten Absprachen, an Machtspielen und institutioneller
Verantwortungslosigkeit empfinden, lässt sich schwer durch
Algorithmen ersetzen.
Die KI hat – zum Glück – keinen Sinn für Ränkespiele, keine Neigung zur parteitaktischen Verschleierung und keine Lust an Vetternwirtschaft. Und das ist möglicherweise ihr größter Nachteil im politischen Alltag.
Denn womöglich ist das eigentliche Hindernis für eine
vernunftgesteuerte Gesellschaft nicht die Technik – sondern der
Umstand, dass ein Teil der Akteure die bestehende
Intransparenz genießt. Oder, um es satirisch
zuzuspitzen:
Die Utopie scheitert nicht an der Technik – sondern an der
Freude mancher, anderen zu schaden. Was für ein Verlust.
Quellen & Literatur:
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Lammert, Norbert (2011): Bundestagsrede zur Eurokrise.
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Der Spiegel (1999): Interview mit Jean-Claude Juncker.
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Goldman, Emma (zugeschriebenes Zitat; Ursprung umstritten).
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Hans Herbert von Arnim (2017): Die Hebel der Macht und wer sie bedient. Droemer Verlag.
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Bundeszentrale für politische Bildung: Dossiers zur Demokratieentwicklung.
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Rawls, John (1971): A Theory of Justice – zu Gerechtigkeit als Fairness.
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Brynjolfsson & McAfee (2017): Machine, Platform, Crowd – zu KI und Governance.
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